Buchkritik: Die Muskeltiere – Einer für alle – alle für einen

Ich habe das große Privileg und die große Freude, nahezu jeden Abend einem kleinen Kind vorzulesen. Ich liebe Vorlesen. Als eingebildeter Intellektueller möchte ich *den* Zugang zu prätentiösem Wissen für meine Tochter eröffnen. Aber mir graut es, dieses Buch in die Hand zu nehmen. Ich habe noch sechs Kapitel vor mir. Sechs Abende, an denen ich beim Lesen mehrfach unterbrechen muss, um zu GÄHNEN!

Nach dutzenden Kinderbüchern habe ich eine Ahnung, was ein gutes Kinderbuch ausmacht: Charaktere, mit denen sich das Kind identifizieren kann oder die es an andere Menschen in seinem Leben erinnert. Eine klar strukturierte Geschichte mit erkennbarem Thema. Und ganz wichtig: Gefühle, denn den Umgang damit wollen kleine Kinder lernen. Entweder über die Handlung und Beschreibungen der Charaktere oder die Dialoge.

Dreimal darf geraten werden, welche drei Dinge den drei Muskeltieren fehlen: Charaktere mit Identifikationsfunktion, eine klare Geschichte und ein Thema sowie Emotionalität. Dieses Buch hier ist eher so eine Art Netflix für Kinderbücher. Die mittlerweile sieben(!) Bände sprechen dafür, dass hier eine Idee bis zum letzten Cent kommerziell ausgepresst wird.

Worum geht es in Die Muskeltiere – Einer für alle – alle für einen neben der Überproduktion von Bindestrichen überhaupt? Vier Nagetiere (zwei Mäuse, eine Ratte und ein Hamster) kommen zusammen und erleben Abenteuer miteinander. Das ist schon das ganze Buch. Jedes Kapitel ist nur ein weiteres Abenteuer. Seien es böse Hafenratten, freche Möwen, der Sprung auf ein Ausflugsboot oder der vermeintliche Tod einer Maus durch einen Wachhund (Sie überlebt, echte Konsequenzen gibt es hier nicht.). Irgendwie passiert immer nur »etwas«. Es gibt keine Zeit zum Nachdenken, für den authentischen Ausdruck von Gefühlen, aber auch nicht für einen emotionalen Abschluss, eine Katharsis oder »closure«.

Fast jedes Kapitel endet wie ein Cliffhanger: unbefriedigend. Es fühlt sich an wie »Binge-Watching«, weil man wissen will, wie die Handlung weitergeht. Das Buch beinhaltet, was ich auch bei vielen modernen Serien moniere: Handlung, aber keine Story. Die Frage »Worum geht es hier?« kann das Buch nicht beantworten. Denn es geht um nichts außer um das Fortsetzen der Handlung. Handlung ist Raison d’être des Buches. Es passieren einfach nur Dinge. Aber was diese Dinge bedeuten, warum sie passieren und was der Zusammenhang ist – das ist der Sinn von Geschichten. Es geht darum, Wahrheiten, Wissen, Erfahrungen, Ideen, Moral und Erkenntnis zu komprimieren und erzählerisch weiterzugeben. Hier gibts einfach nur »Filler«, um 200 Seiten voll zu bekommen.

Die Muskeltiere – Einer für alle – alle für einen ist eher ein minutiöser Bericht über Dinge, die passieren, gefüllt mit ermüdenden Deskriptionen der Umgebung. Das Buch wird empfohlen für Kinder von fünf bis neun Jahren. Meiner Einschätzung nach ist das Buch für Fünfjährige viel zu detailliert und überfrachtet mit Beschreibungen. Für Neunjährige mit Sicherheit zu langweilig, weil nahezu emotionslos. Fazit: Buchreihenabzocke für Eltern. Nicht kaufen.

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