Der Tiger, der aus dem Loch kletterte

Kürzlich hat mir meine Tochter eine Geschichte erzählt. Sie ist noch in einem wundervollen Alter, in dem sich Realität und Fantasie vermengen. In den so lebhaften Fantasien manifestieren sich Ideen, Geschichten und Archetypen, welche wir Erwachsenen meist nur noch über Träume erreichen. Diese eine Geschichte ist etwas Besonderes, aber ich gebe sie zunächst wieder.

Sie erzählte mir, dass sie mit Mama und Oma auf einem Boot zu einer Insel gefahren sei, um dort Backfisch und Pommes zu essen, sowie auf den Spielplatz zu gehen. Soweit entspricht das auch der Realität. Dann aber sei der »Bösewicht« aufgetaucht und hätte die gesamte Insel in ein tiefes Loch gezogen. Im Loch war es dunkel und gruselig. Auch der »Bösewicht« selbst war beängstigend. Im Loch hätte sie sich dann aber in einen Tiger verwandelt (beim Erzählen wurde dann auch wild gefaucht und mit den imaginären Pranken ausgeholt). Ein Tiger, weil sie mit den Krallen aus dem Loch klettern konnte, um den »Bösewicht« zu besiegen, der schließlich Angst vor Tigern hätte. Danach wäre die Insel wieder aufgetaucht und es ging auf den Spielplatz und an den Strand zum Planschen.

Ich finde diese Geschichte absolut bemerkenswert für ein Kind in ihrem Alter. Da steckt so viel Wahrheit und Erkenntnis über die menschliche Natur drin. Im Grunde ist es eine klassische Heldengeschichte wie sie auch Carl Jung beschrieben haben könnte. Da ist zunächst die Erkenntnis, dass die geordnete und verständliche Welt (das sichere Boot, die feste Insel, das geplante Essen etc.) jederzeit durch den »Bösewicht« bedroht ist. Was dieses Wesen genau ist, spielt erst einmal gar keine größere Rolle. Wirklich ausdrücken könnte sie es ohnehin nicht. Aber wir Erwachsenen verstehen das schon eher, unbändige Naturgewalt, Chaos, aber auch das uns allen innewohnende Böse, zumindest die Fähigkeit dazu. Die Welt des (noch nicht) Helden wird plötzlich bedroht oder gar zerstört.

Und wohin wird die Insel gezogen? In ein dunkles Loch, die Unterwelt voller Angst, Grusel und ohne Licht. Das ist genau der Ort an dem wir uns befinden, wenn unsere vertraute Welt plötzlich weg ist oder erheblich gestört wird. Dann müssen wir uns auf einmal neu orientieren, anpassen, verändern und gar transformieren. Und letzteres hat meine Tochter in ihrer Geschichte getan. Sie wurde vom kleinen Kind, welches Pommes essen und auf den Spielplatz wollte (also versorgt werden und Spaß haben) zu etwas Anderem. Zu etwas Gefährlichem sogar. Einem Tiger, ein Raubtier, welches sich die eigene Nahrung erjagt und kräftige und gefährliche Krallen hat.

Aber sie war als Tiger nicht genauso böse und bedrohlich wie der »Bösewicht«, sondern sie wollte ein solch gefährliches Wesen sein, um aus dem Loch zu klettern, den »Bösewicht« zu konfrontieren und Mama und Oma sowie die Insel zu retten (ihre Welt sozusagen). Das kleine Mädchen wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Eine Transformation war notwendig um dem Bösen oder dem Chaos etwas entgegensetzen zu können. Sie hat in ihrem Alter schon begriffen, dass Gut und Böse keine Gegensätze sind, sondern das Gute, um das Böse zu besiegen, Elemente dessen in sich aufnehmen muss. Yin und Yang, der Schatten bei Jung oder unzählige andere Bilder aus verschiedensten Kulturen, geben genau das wieder. Zu sehen, wie das eigene Kind diese Wahrheiten für sich entdeckt ist eine immense Freude für mich als Elternteil.

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