Dr. Strangelove und die Frage nach der männlichen Identität

Worum geht es im Film Dr. Strangelove? Meine stete Antwort: Sex natürlich. Irritierte Blicke folgen, handelt es doch doch offensichtlich um eine Politsatire über den Kalten Krieg. Aber das ist nur die vordergründige Handlung. Genauer betrachtet, zeigt Kubrick den Umgang von Männern mit ihrer eigenen Maskulinität, mit Gewalt, Ängsten und – damit ultimativ verknüpft – Sexualität. Kubrick präsentiert uns dafür drei Varianten von Männlichkeit.

Der die atomare Katastrophe im Film auslösende Charakter General Jack D. Ripper zeigt ein deutlich gestörtes Verhältnis zu Frauen, Sex und Weiblichkeit generell. Sein Auftreten ist klischeehaft maskulin, stoisch, hart und entschieden. Ripper strahlt Willensstärke und Kontrolle aus. Denn er hat herausgefunden, dass die nach dem Sexualakt eintretende Schwäche und Energielosigkeit darauf zurückzuführen ist, dass ihm Frauen seine »Essenz« rauben. Sie würden seine Stärke spüren, sich davon angezogen fühlen, aber sie ihm letztlich über Sex entwenden. Folglich gibt Ripper Frauen seine Essenz und Stärke nicht mehr, wenngleich er das weibliche Geschlecht noch nicht komplett meidet. Kurz gesprochen: Ripper ejakuliert einfach nicht mehr. In moderner Sprache könnte man ihn als »No-Fapper« bezeichnen. So sind für ihn auch Zivilisten verweichlicht (Verweiblicht?) und unfähig, die notwendigen, harten Entscheidungen im Kampf ums Überleben zu treffen. Der andauernde Orgasmusmangel und metaphorische »Samenstau« führen bei Ripper jedoch zu abstrusen Verschwörungstheorien. Die Sowjets planten wohl eine Verseuchung des Trinkwassers (und sogar von Eiscreme), um die Reinheit der »Essenz«, d. h. Willenskraft, des freiheitsliebenden, amerikanischen Volkes zu zersetzen. Feige Zivilisten in Washington seien nicht willens oder fähig, präventiv zu handeln, also setzt er die Regierung unter Zugzwang, indem er die ihm unterstehende, mit Atombomben bewaffnete Bomberstaffel unwiederbringlich auf Kurs Richtung Sowjetunion bringt. Die offensichtliche Anspielung des Namens Jack D. Ripper (Jack the Ripper) ist auch Programm. Hat der historische Mörder doch gerade Prostituierte rituell ermordet, vielleicht um London von »Schmutz und Verunreinigung« zu befreien? Oft ein Motiv für diese Art von Sexualmörder. Essenzielle Reinheit und ihre Bedrohung durch scheinbar unkontrollierte weibliche Sexualität/Prostitution waren auch sein Thema. Ebenso wie die Lösung für die eigenen sexuellen Konflikte: Gewalt und Vernichtung. Im Falle General Rippers zieht dieser diese Lösung am Ende auch sich selbst gegenüber vor, denn bei der drohenden Inhaftierung und möglichen Folter zerbröckelt seine starke männliche Fassade. Er ist zu feige, jegliche Art von Schwäche zu erleiden. Obwohl dies ironischerweise für eine gesunde Sexualität notwendig ist.

Am anderen Ende des hypermaskulinen Spektrums steht General Buck Turgidson – ein Angeber und Frauenheld. Buck ist die englische Bezeichnung für einen männlichen Hirsch, doch mehr als ein prächtiges Geweih (also Show) ist dieser Buck nicht. Während Ripper herrschend hinter dem Schreibtisch sitzt, zeigt Kubrick Turgidson zunächst beim Techtelmechtel mit seiner Gespielin. Die Aufforderung des Präsidenten, umgehend zur Lagebesprechung zu erscheinen, erlaubt es ihm, sich vor seiner Geliebten wichtig zu machen, aber ein gewisser Unwille, seine Pflicht zu erfüllen und auf sexuell-hedonistische Freuden zu verzichten, ist dennoch spürbar. Auch während der Konferenz, als selbst ihm klar wird, dass ein Atomkrieg auf dem Spiel steht, telefoniert er mit seiner Freundin und verspricht, schnell zurück zu sein, sobald die Sache dort vorbei sei. Sie solle ruhig schon mal das Bett warm halten. Die anderen Teilnehmer und der Präsident warten irritiert. Turgidson kann keine Schwäche und keine Fehler eingestehen. Den offensichtlich verrückt gewordenen Ripper verteidigt er anfangs noch. Sein Lösungsvorschlag besteht darin, die von Ripper gegebene »Chance« zu nutzen und einen sofortigen Erstschlag auf die Sowjetunion zu befehlen. Die eigenen Verluste von ein paar Millionen Menschen seien vernachlässigbar. Es scheint so, als ob er die bequemste und schnellste Lösung sucht, um aus der Konferenz herauszukommen und sich wieder seiner sexuellen Eroberung widmen zu können. Es bleibt zu hoffen, sie befindet sich nicht unter den Millionen vertretbaren Opfern. Turgidson ist eigentlich kein Mann, sondern ein kleiner Junge, der so tut, als sei er ein Mann. Sein Verhalten kennzeichnen Prahlerei, Bravado, aber auch kindlicher Trotz. Wo Ripper sich in die Kontrolle flüchtet, sucht Turgidson nach Anerkennung für seine sexuelle Potenz, seine Männlichkeit, die ihm ja in erwachsener Form eigentlich fehlt.

Als Antidot zur toxischen Männlichkeit steht President Merkin Muffley, dessen Name im Original eine Anspielung ist, welche sich am ehesten mit »Muschi« übersetzen lässt. Für Ripper und Turgidson ist President Muffley tatsächlich so etwas wie eine »Muschi«. Er wirkt weich, etwas feminin, ist klein und wenig kräftig. Muffley sucht eher Konsens als Konflikt und kann mit militärischem Habitus wenig anfangen, kommuniziert er doch ruhig und zivil. Ursprünglich war der Charakter auch deutlich schwächer und lächerlicher angelegt. Es scheint, als wollte Kubrick Muffley den beiden Militäroffizieren erst auf den zweiten Blick als reifen, männlichen Charakter entgegenstellen. President Muffley ist ein richtiger Mann, soll bedeuten, ein erwachsener und in sich integrierter Mann. Er braucht weder Prahlerei noch stoische Maskulinität. Er wird weder von seinem Sexualtrieb kontrolliert, noch verliert er sich in der Kontrolle darüber. Spätestens, als er Turgidsons Vorschlag als Massenmord entschieden zurückweist, wird deutlich, dass dieser mehr sanfte und zugewandt wirkende Mann Prinzipien hat und diese auch entschieden vortragen kann. Im Gespräch mit dem betrunkenen sowjetischen Generalsekretär wiederum bleibt er nachsichtig, mitfühlend und fast schon väterlich. Muffley hat neben seiner Männlichkeit auch die weiblichen Anteile seiner Persönlichkeit angenommen. Dies erlaubt es ihm letztlich, flexibel auf die Situation zu reagieren und die Prioritäten richtig einzuordnen. Aus Mitgefühl und Verantwortung für die Menschen übergeht er sogar sein eigenes Militär und verrät den Sowjets wichtige militärische Geheimnisse, damit sie die Bomber noch stoppen können, bevor es zu spät ist. Die beiden Generäle dagegen, jeweils fixiert auf eine eher einseitige Männlichkeit, bleiben in ihrem Denken gefangen.

Leider, jedoch ohne President Muffleys Verschulden, kommt es doch zur atomaren Katastrophe. Die einzige Lösung kommt von einem ehemaligen Nazi-Wissenschaftler: die führende (natürlich männliche) Elite des Landes in Bunkern und Bergwerken unterbringen, bis die Strahlung auf der Oberfläche abgeklungen ist. Um das Überleben zu sichern, sollen auch gleich zehn nach sexueller Attraktivität ausgewählte Frauen pro Mann mitkommen. Die Aufgabe der Männer bestünde nun darin, sich selbstlos dem Überleben der Menschheit in den Dienst zu stellen. Eine Vorstellung, die letztlich auf alle Anwesenden einen unwiderstehlichen Reiz ausübt. Die Männer in Dr. Strangelove bleiben am Ende also immer noch Opfer ihres Triebes. Es entsteht der Eindruck, dass mit dieser Lösung die Katastrophe ja noch etwas Gutes hat, worauf man sich freuen könne. Außer vielleicht General Ripper, der, hätte er sich zu diesem Zeitpunkt nicht schon längst eine Kugel in den Kopf geschossen, dies sicher spätestens jetzt getan hätte. Denn eines ist den Männern im Bunker sicher: ein permanenter Zustand der Schwäche und des Verlustes an wertvoller Kraft und Essenz, spätestens wenn die ersten zehn Babys pro Mann geboren wurden.

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