Der Kapitalismus ist schuld!

Frei nach Karl Marx zieht ein Schreckgespenst durch die Welt. Der Kapitalismus, und wie im 19. Jahrhundert der Kommunismus, ist dieser für allerlei Übel verantwortlich. Zumindest in westlichen Gesellschaften ist Kapitalismuskritik geradezu in Mode. Sie mag in gebildeten Kreisen fast schon zum guten Ton gehören. Viele Kritiker machen mit Klimawandel, Kinderarbeit, Armut, Pflegenotstand und Übergewicht irgendwie so jedes gesellschaftliche Problem am Kapitalismus fest. Die meisten Verteidiger klammern sich dagegen hilflos an Effizienz-, Wachstums- und Wohlstandsargumenten fest. Mir scheint das einerseits zu weitgreifend und andererseits zu kurz gedacht.

Ob die vielfachen Kritiken oder die zahmen Verteidigungen (und ja, Kapitalismuskritik ist definitiv kreativer, polemischer, lustiger und lauter) zu Recht oder zu Unrecht sind, soll heute gar nicht geklärt werden. Ich würde den Blick gern woanders hinlenken. Nämlich zur Frage, ob „Der Kapitalismus“ denn die richtige Analyseebene ist? Aber dazu müssten wir klären, was Kapitalismus eigentlich ist. Der Duden sagt: „Wirtschaftsform, die durch Privateigentum an Produktionsmitteln und Steuerung des Wirtschaftsgeschehens über den Markt gekennzeichnet ist1. Diese Definition ist zwar technisch korrekt, aber hilft auch irgendwie nicht weiter. Vielleicht fangen wir mal ganz weit vorn an.

Es war einmal die Arbeit

Um dem Kapitalismus auf die Spur zu kommen, klären wir zunächst die Frage, was denn Kapital sei? Kapital ist neben Arbeit und Boden einer der drei klassischen Produktionsfaktoren. Neuerdings zählen auch Wissen, Energie, unternehmerische Tätigkeit oder Umweltressourcen dazu2. Für unsere Zwecke lassen wir Arbeit stehen und fassen alle anderen Faktoren unter Kapital zusammen. Für die Menschen der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sind die Abgrenzungen sicher wichtig, für unseren hier eher philosophischen Ansatz nicht. Ultimativ sind Boden, Wissen, Energie und Ressourcen nämlich Kapital bzw. das Ergebnis von Arbeit und Kapital, welches wiederum Kapital ist. Verwirrt? Also ganz zum Anfang.

Die ersten Menschen waren keine Kapitalisten. Sie lebten von der Hand in den Mund. Ihr einziger Produktionsfaktor war Arbeit und mit dieser haben sie ihrer Umwelt Nahrung abgetrotzt oder wenn es einen Überfluss gab, einfach eingesammelt. Körperliche Arbeit ist aber begrenzt. Menschen können nur so viele Stunden am Tag aktiv sein und auch nur entsprechend ihres Körpers Kraft einsetzen. Allerdings, Menschen wären nicht Menschen, wenn sie nicht versuchen würden, beständig Dinge zu verbessern, und irgendeiner von denen ersten Menschen hatte den brillanten Einfall, mit einem großen Knochen Tiere zu erlegen. Das Werkzeug war erfunden und Kubricks 20013 lässt grüßen.

Auf einmal konnte der Produktionsfaktor Arbeit mit einem Werkzeug potenziert werden. Dieser erste Knüppel war eine primitive Form von Kapital. Fortan verwendeten Menschen Arbeit darauf, Werkzeuge herzustellen (die sich schlechterdings verzehren lassen) statt zu sammeln, weil die Nahrungsbeschaffung und Zubereitung mit Werkzeugen viel effektiver war als, wenn alle Mitglieder der Sippe mit der Nahrungssuche beschäftigt gewesen wären. Von da an ging es langsam aber stetig aufwärts. Menschen fanden heraus, dass man nicht mehr Tieren hinterherjagen und Früchte sammeln muss. Es entwickelten sich Werkzeuge und Wissen, um Tiere zu domestizieren wie auch Landwirtschaft zu betreiben. Der Grundstock war gelegt, um Überschüsse zu produzieren.

Das Kapital wächst

Über Jahrtausende haben die Menschen mehr oder weniger intensiv nach Wegen gesucht, den Faktor Arbeit effektiver zu machen. Denn nichts anderes ist Kapital, seien es Werkzeuge und Maschinen, Wissen, erschlossene Bodenschätze oder billige Energie, nämlich Mittel, um unsere körperliche und geistige Kraft zu verstärken. Und Überschüsse konnten (neben vielen anderen Dingen wie Krieg, aber auch Kunst und Konsum) genau dafür genutzt werden. Allerdings war der Faktor Arbeit lange Zeit so dominant, dass sich Herrscher und Mächtige damit zufriedengaben, eher Menschen zu erobern als Kapital zu bilden. Mit mehr Untertanen jeglicher Art ließ sich lange Zeit mehr Überschuss erwirtschaften als mit dem Einsatz von mehr Kapital.

Trotzdem war das (zunächst langsame) Anwachsen von Kapital nicht zu stoppen und mit der Industrialisierung wurde dieses Streben nach Potenzierung, Effektivität und Effizienz systematisiert. Es entstand ein selbst laufender Prozess des Wachstums, zumindest dort, wo die Umstände stimmten. Und nach gut 250 Jahren seit Beginn der Industrialisierung stehen wir da, wo wir heute sind. Im Kapitalismus. Über die stimmenden Umstände reden wir noch, denn die sind entscheidend und helfen vielleicht bei der Ausgangsfrage weiter.

Auch der Sozialismus war kapitalistisch

So gesehen war der große Gegenspieler natürlich auch ein kapitalistisches System. Der Sozialismus war sehr daran interessiert, Industrie und Forschung aufzubauen. Also Kapital zu erzeugen, um daraus noch mehr Güter, Wissen und Kapital zu generieren, also zu wachsen. Die Idee des kapitalgestützten Wachstums war beiden Systemen gleich. Wie das zu bewerkstelligen sei und welchem ultimativen Zweck dies zu dienen hatte, das war der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus und den schauen wir uns in zwei Punkten an.

Zuerst der Sozialismus. Dieser war von Anfang als rationalistische Ideologie angelegt. Er wurde von Denkern geradezu erfunden und von einer machthabenden oder machtergreifenden Elite von oben herab eingeführt. Effizienz, Effektivität und der Aufbau von Kapital waren die Mittel dazu, um eine sozialistische Utopie auf Erden wahr werden zu lassen. Wie real diese Utopien sich entwickelt haben, ist eine andere Frage. Sozialismuskritik ist nicht das heutige Thema. Die innere Logik des Wachstums und der Ressourcenverwertung war jedoch dem Sozialismus genauso inne wie dem Kapitalismus. Die Steuerungsmechanismen waren jedoch, mehr auf ideologischer denn auf praktischer Ebene, unterschiedlich.

Kapitalismus als emergentes Phänomen

Der heutige Kapitalismus ist in Abgrenzung zum Sozialismus keine Ideologie. Niemand hat ihn erfunden. Adam Smith4, der „erste Ökonom“, der eigentlich Moralphilosoph war, hat seine Anfänge lediglich beschrieben und, das wissen leider die wenigstens, auch gleich eine Menge Kritik angebracht. Folgende Generationen von Ökonomen, Soziologen, Philosophen als auch Kritikern haben unseren heutigen Kapitalismus auch nicht erfunden. Befürworter haben lediglich die Bedingungen ausgemacht, unter denen der Kapitalismus besonders gut, ungehindert, effektiv und wohlstandsvermehrend funktioniert und für jene Bedingungen entsprechend Partei ergriffen.

Was sind diese Bedingungen? Darüber wurde viel geschrieben, gerade auch in Hinblick darauf, warum in manchen Ländern der Kapitalismus eben nicht zu allgemeinem Wohlstand geführt hat. Wie bei vielen anderen Themen sind es immer mehrere Gründe. Klar ist, dass ein funktionierendes Rechtssystem, relativer Frieden und ein ausreichendes Maß an Vertrauen und Kohäsion eines Landes (auch zwischen Ländern) förderliche, wenn nicht sogar notwendige Bedingungen sind. Wir sollten uns über „funktionierend“ und „relativer Frieden“ keine Illusionen machen. Das British Empire war alles andere als friedlich und China würde heute auch niemand als Rechtsstaat bezeichnen.

Solange es aber diese Bedingungen Menschen erlauben, ihre Arbeit und ihr Kapital relativ frei über Marktmechanismen auszutauschen, reichen sie aus, um einen kapitalistischen Prozess in Gang zu setzen. Und es ist geradezu natürlich, dass die meisten Menschen ihre Arbeit und ihr Kapital für einen fairen Preis zur Verfügung stellen wollen. Wer mag schon für „zu wenig“ arbeiten gehen? Und überwiegend tauschen wir unsere Arbeitskraft und unser Kapital nur dann am Markt ein, wenn wir dem, was wir dafür bekommen, mehr Wert beimessen, als dem, was wir geben. Schon simpler Tauschwirtschaft liegt diese Erkenntnis zugrunde.

Und siehe da, menschliches Verhalten setzt eine Wachstumsspirale in Gang, wenn man die Menschen nur lässt und einen halbwegs freien, verlässlichen und friedlichen Rahmen setzt. Und hier ist mein Punkt: Kapitalismus ist kein „System“, niemand hat ihn erfunden und verordnet. Kapitalismus ist Ergebnis einer Art sozialer Naturgesetze, basierend auf dem, was uns Menschen zu Menschen macht. Und im Gegensatz zum Sozialismus hat Kapitalismus kein Ziel oder Endzustand. Er ist Ergebnis menschlichen Handelns. „Human Action“, wie Ludwig von Mises gleich ein ganzes Buch5 darüber betitelt hat. So gesehen läuft die Kritik am „System Kapitalismus“ ins Leere und das ist schade.

Wo sollte Kapitalismuskritik ansetzen

Denn Kritik am Kapitalismus ist wie bei jedem anderen sozialen Phänomen angebracht. Neben dem unglaublichen Wohlstand und wissenschaftlich wie kulturellem Fortschritt, den kapitalistische Prozesse erzeugt haben, verbleibt eine Schattenseite, der wir uns ebenso widmen müssen. Auf der einen Seite ist der Kapitalismus fähig, den dem Menschen innewohnenden Eigennutz in produktive und gesellschaftlich fruchtbare Bahnen zu lenken, aber erlaubt auch zugleich, dass diese Eigenschaften destruktiv eskalieren und den uns ebenso innewohnenden Gemeinschaftssinn verdrängt.

Jedoch, wenn das Bilden von Kapital und der Kapitalismus selbst emergente Phänomene sind, fast schon eine Art menschlich-soziales Naturgesetz, dann ist systemische Kapitalismuskritik im Grunde Kritik am Menschsein selbst. Kann man machen, ist dann aber natürlich ein ganz anderer Ansatz, den man Nihilismus nennen müsste. Ich bin überzeugt, dass ein Großteil der Kapitalismuskritik, ohne dass die Menschen sich dessen bewusst sind, Kritik an der menschlichen Natur selbst, also Nihilismus ist.

Andererseits gibt es im heutigen Kapitalismus eine Menge Dinge, die kritikwürdig sind. Aber dafür ist Systemkritik zu pauschal, jeder einzelne Punkt müsste analysiert werden und oft ist nicht nur oder vielleicht überhaupt nicht der Kapitalismus als emergentes System Ursache für die kritisierten Probleme. Oft wirkt der Kapitalismus als Verstärker, aber auch als Bremse für andere positive wie negative soziale Prozesse. Häufig, fast immer eigentlich, liegt die Ursache im Zusammenspiel zwischen dem kapitalistischen Prozess und den politischen sowie kulturellen Prozessen. Wirklich trennen lassen sich diese ohnehin nicht.

Allgemeine Kapitalismuskritik macht, finde ich, es sich etwas zu einfach und ist damit unfair gegenüber den Menschen, deren Probleme tatsächlich einer Lösung bedürfen. Es gibt aber genügend Menschen, die genau das tun und sich mit viel Mühe und Geduld um Lösungen bemühen. Wir sollten diesen Pragmatikern vielleicht mehr zuhören als den Feuilletonisten. Aber wer möchte schon gern mehrere Seiten über das komplexe Ineinandergreifen von Eigentumsrechten und Umweltnutzung durcharbeiten, wenn es eine einfache Antwort gibt: Der Kapitalismus ist schuld! Diese Neigung ist leider auch unsere allzu menschliche Natur. Und es hat schon eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet der Kapitalismus einen hinreichend großen Markt für Kapitalismuskritik erzeugt.